Am Dienstag, den 17. Juni, war Nancy Urizar in ihrem Büro an einer Jesuiten-Privatschule in Watts, Los Angeles, beschäftigt, als ihr Telefon klingelte. „Es war ein ganz normaler Tag für mich“, berichtete sie. „Es war zwölf Uhr, und ich war gerade von der Mittagspause zurückgekehrt.“ Am anderen Ende der Leitung war der Vermieter ihres Vaters, der ihr mitteilte, dass Freunde ihres Vaters, Francisco Urizar, nach ihrer Telefonnummer gefragt hatten. Seit dem 6. Juni, als zwei bedeutende Razzien von der Immigrations- und Zollbehörde (ICE) in Los Angeles durchgeführt wurden, herrschen Angst und Unsicherheit.
„Sie wollte nicht die Tür öffnen, weil sie Angst hatte“, erklärte Urizar. Doch die Freunde waren Kollegen ihres Vaters, der Mission-Produkte, darunter Tortillas, an lokale Lebensmittelgeschäfte ausliefert. „Sie hat gesagt, dass sie gehört haben, dass es ein Video gab und dass es mein Vater war, der mitgenommen wurde“, sagte Urizar. „Ich war wie in einem Schockzustand. Ich dachte, das ist kein Scherz – das ist nicht lustig.“
Das besagte Video wurde von einem Passanten im Parkhaus eines Food 4 Less-Geschäfts in Pico Rivera, im östlichen LA County, um 9:30 Uhr aufgenommen. Es zeigt einen gelben Kastenwagen, neben dem eine Gruppe von Einwanderungsbeamten in Tarnkleidung mit Helmen und schusssicheren Westen steht. Sie tragen Gesichtsschutz und Handschuhe sowie taktische Ausrüstung, als wären sie in einem Kriegsgebiet und nicht in einem Vorort. Francisco Urizar wurde während einer Auslieferung gestoppt und wartet, flankiert von zwei Beamten, neben einer Sackkarre, auf der Lebensmittelkisten gestapelt sind. Als der Aufnehmende näher kommt, rufen einige Zuschauer Ratschläge. „¡No diga nada!“ (“Sagen Sie nichts!”); „¡Hasta que tiene un lawyer presente no diga nada!” (“Bis Sie einen Anwalt haben, sagen Sie nichts!”). Francisco, der eine blaue Baseballmütze und einen Schnurrbart trägt, schaut ängstlich zurück auf seinen Wagen und die Tortillas, während die Beamten ihn in den Rücksitz eines weißen S.U.V. von Customs and Border Protection führen.

Hintergründe und Kontext
Die Razzien von ICE in Los Angeles sind keine neuen Phänomene, jedoch haben sie an Intensität zugenommen. Seit der Ankunft der Biden-Administration, die versprochen hatte, die Rhetorik und die Praxis der Einwanderungspolitik zu ändern, hat sich die Situation für viele Einwanderer in den USA verändert. Trotz dieser Versprechen sind die Razzien und die Angst vor der Festnahme nach wie vor allgegenwärtig, besonders in Gemeinden, die stark von Einwanderern geprägt sind.
Die American Civil Liberties Union (ACLU) hat wiederholt auf die Gefahren der massenhaften Razzien hingewiesen und die damit verbundenen psychologischen Auswirkungen auf die Betroffenen und ihre Familien dokumentiert. Berichten zufolge haben viele Einwanderer in diesen gefährdeten Gemeinschaften ihre Routinen geändert, aus Angst, bei der Arbeit oder beim Einkaufen festgenommen zu werden.
Die Los Angeles Polizeibehörde (LAPD) hat in der Vergangenheit erklärt, dass sie nicht in die Operationen von ICE involviert ist. Unter kalifornischem Gesetz sind die LAPD und andere lokale Strafverfolgungsbehörden eingeschränkt in ihrer Zusammenarbeit mit den bundesstaatlichen Einwanderungsbehörden. Viele Kommunen haben sich selbst zu Heiligtumstädten erklärt, was bedeutet, dass sie keine Informationen über die genauen Zeiten und Orte von ICE-Razzien weitergeben.
Dennoch zeigt die Realität, dass die Koordination zwischen den Behörden nicht immer klar ist. Laut Berichten haben Beamte von ICE die LAPD vor den Razzien informiert, doch diese Informationen werden nicht immer in Echtzeit oder in vollem Umfang übermittelt. Dies führt zu einer signifikanten Informationslücke, die von den betroffenen Gemeinschaften ausgenutzt werden kann.

Investigative Enthüllungen
Die Videos von ICE-Razzien, die in sozialen Medien geteilt werden, sind zu einer wichtigen Informationsquelle für die Öffentlichkeit geworden. Sie bieten einen direkten Einblick in die Art und Weise, wie diese Razzien durchgeführt werden, und zeigen die oft brutalen Methoden, die von den Beamten angewandt werden. Aktivisten und Organisationen, wie die Coalition for Humane Immigrant Rights, haben versucht, die Aufzeichnungen zu sammeln und die Geschichten der Betroffenen zu dokumentieren.
Die Zahl der Festnahmen durch ICE hat in den letzten Monaten zugenommen. Laut internen Berichten schätzt die Coalition for Humane Immigrant Rights, dass zwischen 500 und 600 Menschen in dieser kurzen Zeitspanne festgenommen wurden. Dies ist eine alarmierende Zahl, die die schockierende Realität widerspiegelt, mit der viele Einwanderer konfrontiert sind. Die Unsicherheit über ihre rechtlichen Möglichkeiten und die ständige Angst vor Festnahmen führen zu einem allgemeinen Gefühl der Ohnmacht.
Doch nicht nur die unmittelbaren Opfer sind betroffen. Die Gemeinschaften spüren die Auswirkungen der Razzien in ihrem täglichen Leben. Laut Pew Research ist die psychische Gesundheit vieler Einwanderer in den letzten Jahren zurückgegangen. Ängste und Depressionen sind verbreitet, insbesondere bei denen, die in ständiger Furcht leben, ihre Familie zu verlieren oder selbst festgenommen zu werden.
Obwohl die Biden-Administration oft betont, dass sich die Politik in eine humanere Richtung bewegt, bleibt die Realität vor Ort eine andere. Mehrere Berichte belegen, dass die Zahl der Razzien in bestimmten Bundesstaaten, einschließlich Kalifornien, während des aktuellen politischen Klimas zugenommen hat. Die Frage bleibt, ob die Regierung wirklich bereit ist, die notwendigen Änderungen in der Einwanderungspolitik umzusetzen oder ob sie weiterhin auf eine repressivere Praxis zurückgreift.

Auswirkungen und Reaktionen
Die Auswirkungen dieser Razzien sind enorm. Familien werden auseinandergerissen, und die finanziellen Schwierigkeiten wachsen. Viele der festgenommenen Personen sind die Hauptverdiener ihrer Familien. Die Angst vor einer Festnahme führt dazu, dass viele Menschen ihre Arbeit verlieren oder ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können. Laut einer Umfrage der National Council of La Raza berichteten 65 % der befragten Einwanderer von einem Rückgang ihrer Einkünfte, nachdem sie von Razzien gehört hatten.
Die Reaktion auf diese Entwicklungen ist vielfältig. Aktivistengruppen organisieren Proteste und versuchen, das Bewusstsein für die Herausforderungen zu schärfen, mit denen Immigranten konfrontiert sind. Einige Organisationen arbeiten daran, rechtliche Unterstützung für die Betroffenen bereitzustellen, während andere versuchen, durch Öffentlichkeitsarbeit Druck auf die Regierung auszuüben, um die Praktiken von ICE zu reformieren.
In der politischen Arena sind die Reaktionen gemischt. Einige Vertreter fordern eine vollständige Abschaffung von ICE, während andere eine Reform des Systems fordern, um die Menschenrechte der Einwanderer zu schützen. Diese Spaltung in der politischen Diskussion spiegelt die tieferen gesellschaftlichen Spannungen wider, die in den USA bestehen, wenn es um Einwanderung und die Behandlung von Migranten geht.
Zukünftige Entwicklungen
Die Situation in Los Angeles und anderen Städten wird voraussichtlich weiterhin angespannt bleiben. Die Razzien von ICE sind Teil eines größeren Musters, das nicht nur die Einwanderungspolitik betrifft, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen, die die Rechte von Einwanderern schützen sollen. Experten warnen davor, dass ohne umfassende Reformen und einen klaren politischen Willen, die Menschenrechtslage für viele Einwanderer in den USA weiterhin prekär bleiben wird.
Die Erfahrungen von Menschen wie Nancy Urizar und ihrem Vater sind keine Einzelfälle. Die Geschichten dieser Familien sind ein Spiegelbild der Realität, die viele Einwanderer täglich erleben. Die kommenden Monate werden entscheidend sein, um zu sehen, ob die Biden-Administration tatsächlich in der Lage ist, Veränderungen herbeizuführen oder ob die gegenwärtigen Praktiken fortgesetzt werden.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die öffentliche Wahrnehmung und die politische Landschaft ändern, um den Bedürfnissen und Rechten derjenigen gerecht zu werden, die in unserer Gesellschaft leben und arbeiten. Die Stimmen der Opfer müssen gehört werden, und es ist an der Zeit, dass die Diskussion über Einwanderung und Menschenrechte nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch im Herzen der Gemeinschaft geführt wird.