Eine umfassende Untersuchung der Yoorrook Justice Commission hat ergeben, dass britische Kolonialherren Völkermord an der indigenen Bevölkerung Australiens begingen. Diese bahnbrechende, von Aborigines geführte Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass zwischen der Ankunft der britischen Kolonisten in den frühen 1830er Jahren und den darauf folgenden zwei Jahrzehnten bis zu 75 % der einheimischen Bevölkerung in Victoria aufgrund von Gewalt und Krankheiten ausgelöscht wurden. Die Kommission präsentierte in ihrem Bericht über 100 Empfehlungen, um die durch „Invasion und Besetzung“ verursachten Schäden zu „heilen“. Doch innerhalb des Kommissionsteams gibt es Uneinigkeit über einige der zentralen Erkenntnisse.
Die Yoorrook Justice Commission wurde 2021 als erste formelle „Wahrheitsfindung“ in Australien eingerichtet und hatte den Auftrag, vergangene und anhaltende „systemische Ungerechtigkeiten“ gegenüber den indigenen Völkern in Victoria zu untersuchen. Diese Initiative ist Teil eines umfassenderen nationalen Vorstoßes, um einen Versöhnungsprozess mit den Aborigines und Torres-Strait-Insulanern zu fördern. Führende Vertreter der Gemeinschaft betonen, dass dieser Prozess die Untersuchung der nationalen Geschichte, die Aushandlung von Verträgen und die Gewährung eines größeren politischen Mitspracherechts für die First Nations beinhalten sollte.

Hintergründe und Kontext
Die Yoorrook Justice Commission ist das erste ihrer Art in Australien und hat über vier Jahre hinweg den Aborigines und Torres-Strait-Insulanern die Möglichkeit gegeben, ihre Geschichten und Erfahrungen formal zu teilen. Der Bericht, der aus mehr als zwei Monaten öffentlicher Anhörungen und über 1.300 eingereichten Stellungnahmen entstand, behandelt eine Vielzahl von Themen, darunter Land- und Wasserrechte, kulturelle Verletzungen, Tötungen und Völkermord sowie Gesundheits-, Bildungs- und Wohnfragen.
Laut den Ergebnissen der Kommission kam es seit 1834 zu „Massenmorden, Krankheiten, sexueller Gewalt, Ausgrenzung, Linguizid, kultureller Auslöschung, Umweltzerstörung und der Entfernung von Kindern“, was zur „nahezu vollständigen physischen Zerstörung“ der indigenen Gemeinschaft in Victoria führte. Die Bevölkerung, die 1834 noch 60.000 betrug, war bis 1851 auf lediglich 15.000 gesunken.
„Dies war Völkermord“, stellt der Bericht klar und fordert „Wiedergutmachung“ für eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen, die möglicherweise auch Reparationen umfassen könnten. Zu den weiteren Empfehlungen zählen eine umfassende Überarbeitung des Bildungssystems, um einen größeren Einfluss der indigenen Bevölkerung zu gewährleisten, sowie eine offizielle Entschuldigung der Regierung für indigene Soldaten, die während der Weltkriege gedient hatten und von einem Programm zur Landübergabe ausgeschlossen wurden, als sie von den Schlachtfeldern heimkehrten.

Investigative Enthüllungen
Die Untersuchung legt zudem offen, dass im Gesundheitswesen in Victoria Rassismus als „endemic“ betrachtet wird und fordert mehr Mittel für die indigenen Gesundheitsdienste sowie Maßnahmen zur Erhöhung des Anteils von Aboriginal-Mitarbeitern im System. Der Bericht zeigt, wie tief verwurzelt die rassistischen Strukturen sind, die die indigenen Gemeinschaften in ihren Bemühungen um Gleichheit und Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten behindern.
Interessanterweise äußerten drei der fünf Kommissare – Sue-Anne Hunter, Maggie Walter und Anthony North – ihre Bedenken hinsichtlich der Einbeziehung bestimmter zentraler Erkenntnisse im endgültigen Bericht, ohne jedoch spezifische Details zu nennen. Diese Uneinigkeit innerhalb der Kommission wirft Fragen über die Konsistenz und Integrität der präsentierten Ergebnisse auf.
In der politischen Arena hat die Laborregierung von Victoria angekündigt, die Empfehlungen sorgfältig zu prüfen. Premierministerin Jacinta Allan erklärte, dass der Bericht „Licht auf harte Wahrheiten“ werfe. Dies deutet darauf hin, dass die Regierung bereit ist, sich mit den schwierigen Fragen auseinanderzusetzen, die die indigenen Gemeinschaften betreffen.

Auswirkungen und Reaktionen
Die Reaktion auf die Untersuchung ist gemischt. Jill Gallagher, Vorsitzende der Spitzenorganisation für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Aborigines in Victoria, bezeichnete das Ergebnis als „unbestreitbar“. Sie betonte: „Wir geben niemandem, der heute lebt, die Schuld für diese Gräueltaten, aber es ist die Verantwortung von uns, die heute leben, diese Wahrheit zu akzeptieren.“ Gallagher fordert alle Victorians auf, die faktischen Ergebnisse anzuerkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Diese Untersuchung könnte auch weitreichende Folgen für die nationale Diskussion über die Anerkennung der traditionellen Eigentümer Australiens haben. In den letzten Jahren gab es hitzige Debatten über die Frage, wie die indigenen Völker auf allen Regierungsebenen anerkannt werden sollen.
Ein Beispiel dafür ist das gescheiterte Referendum im Oktober 2023, bei dem die Australier gegen eine Änderung der Verfassung stimmten, die eine Stimme für Aboriginal und Torres-Strait-Insulaner geschaffen hätte, um den indigenen Menschen eine nationale Vertretung zu geben. Diese Entscheidung hat die Diskussion über die Rechte und die Anerkennung der indigenen Völker in Australien stark beeinflusst und zeigt die Herausforderung, mit der die Regierung konfrontiert ist, wenn es um die Umsetzung der Empfehlungen der Yoorrook Justice Commission geht.
Zukünftige Entwicklungen
Die Kommission hat das erste umfassende Dokument dieser Art in Australien veröffentlicht, obwohl ähnliche Wahrheitsfindungsprozess in anderen Bundesstaaten und Territorien mit unterschiedlichen Fortschritten stattfinden, abhängig von der politischen Zugehörigkeit der jeweiligen Regierung. So wurde in Queensland eine Wahrheitsfindung abgesagt, nachdem die Laborregierung von einer neuen liberal-nationalen Regierung abgelöst wurde.
Die Herausforderung für die Regierung von Victoria und darüber hinaus besteht nun darin, die notwendigen Schritte zur Umsetzung der Empfehlungen der Yoorrook Justice Commission zu unternehmen. Die Geschehnisse in den kommenden Monaten könnten entscheidend dafür sein, ob der von den indigenen Völkern geforderte Versöhnungsprozess tatsächlich in Gang kommt oder ob er wieder ins Stocken gerät.
Fest steht, dass die Aufarbeitung der Geschichte Australiens und die Anerkennung der systemischen Ungerechtigkeiten, die die indigenen Völker erlitten haben, nicht länger ignoriert werden können. Der Bericht der Yoorrook Justice Commission ist ein Aufruf an alle Australier, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und gemeinsam eine gerechtere Zukunft zu gestalten.