DEIR AL BALAH, Gaza-Streifen — Die Situation in Gaza hat sich zu einem beispiellosen Chaos entwickelt, das von vielen Anwohnern als eine Art dystopisches “Squid Game” beschrieben wird. Die verzweifelte Jagd nach Nahrungsmitteln und humanitärer Hilfe hat für Hunderte von Menschen fatale Konsequenzen gehabt. “Es ist ein Todesrennen. Die Schnellsten, Stärksten und Glücklichsten könnten überleben und an die Lebensmittel gelangen”, schildert der 30-jährige Mohammed al-Shaqra, während er auf die verheerenden Umstände hinweist, unter denen die Menschen in Gaza leben müssen. “Es fühlt sich an, als wären wir Tiere, die um eine Kiste mit Lebensmitteln rennen, als ob unser Leben davon abhängt. Und das tut es.”
Seitdem Israel die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen Ende letzten Monats beiseitegeschoben hat und die Hilfsoperationen der Gaza Humanitarian Foundation anvertraute — einem undurchsichtigen, in Delaware registrierten U.S.- und israelisch unterstützten privaten Auftragnehmer — sind tödliche Vorfälle bei der Verteilung von Hilfsgütern zur traurigen Regel geworden. Am Donnerstag berichteten die Gesundheitsbehörden in Gaza von 12 Toten in der Nähe eines Verteilungszentrums der Stiftung. Dies war jedoch nur eine vergleichsweise geringe Zahl, nachdem am Dienstag bereits 59 Menschen in ähnlichen Umständen ums Leben kamen. Seit Beginn der Arbeit der Stiftung am 26. Mai wurden mehr als 400 Menschen getötet und über 3.000 verwundet.

Hintergründe und Kontext
Die humanitäre Krise in Gaza hat sich dramatisch verschärft, seit Israel im März alle Hilfslieferungen gesperrt hat. Die Blockade wurde von der israelischen Regierung als Druckmittel gegen die militantische Gruppe Hamas gerechtfertigt, um eine Freilassung von Geiseln zu erzwingen. Dies geschah trotz weit verbreiteter Kritik an den humanitären Auswirkungen dieser Entscheidung. Laut Berichten von palästinensischen Behörden und Hilfsorganisationen sind die Menschen in Gaza von Hunger und Verzweiflung betroffen, während die israelische Regierung die Behauptung aufstellt, dass Hamas Hilfsgüter stehlen würde, für die sie jedoch nie Beweise vorgelegt hat.
Die Gaza Humanitarian Foundation, die als zentrale Stelle für die Verteilung von Hilfsgütern fungiert, ist von Anfang an umstritten gewesen. Die erste Wahl für den Exekutivdirektor der Stiftung trat zurück, bevor die Hilfslieferungen überhaupt begonnen hatten. Sie nannte die geplanten Maßnahmen “unvereinbar mit humanitären Prinzipien”. Die Boston Consulting Group, die bei der Gestaltung des Verteilungssystems half, hat ihren Vertrag mit der Stiftung in diesem Monat gekündigt. Zwei Partner, die an dem Projekt beteiligt waren, wurden entlassen.
Statt humanitärer Arbeiter hat die Stiftung private Bewaffnete eingesetzt, die in der Nähe der israelischen Militärpräsenz stationiert sind. Dies hat zu einem tiefen Misstrauen unter den Bewohnern von Gaza geführt. Anstatt die Lebensmittel direkt zu verteilen, werden diese oft auf Paletten abgeladen, während Menschenmengen sich drängen, um an die Lebensmittel zu gelangen.

Investigative Enthüllungen
Die Hilfslieferungen sind nicht nur chaotisch und gefährlich, sondern auch stark zentralisiert. Die Stiftung hat die Verteilung auf vier “befestigte” Hubs im südlichen Gaza konzentriert, im Gegensatz zu den etwa 400 kleineren Verteilzentren, die von der UN und anderen Organisationen genutzt wurden. Dies zwingt die ohnehin schon hungernden Menschen, mehrere Kilometer durch aktive Kampfzonen zu gehen, um an die benötigten Lebensmittel zu gelangen. Bewohner berichten, dass oft nur einer oder zwei Hubs an einem Tag geöffnet sind und die angekündigten Öffnungszeiten niemals eingehalten werden.
Die Lebensmittelpakete, die verteilt werden, sind nicht klar kommuniziert, was zu weiterer Verwirrung und Misstrauen führt. Viele Menschen warten stundenlang, um an die Lebensmittel zu gelangen, ohne zu wissen, was sie tatsächlich erhalten werden. Dies hat zu einem unglaublichen Druck auf die bereits geschwächte Bevölkerung geführt, die oft kurz vor dem Verhungern steht.
Al-Shaqra selbst wurde zu einem der Opfer in diesem verzweifelten Rennen um Lebensmittel. Am 8. Juni versammelte er sich mit Tausenden von anderen in den frühen Morgenstunden in der Nähe eines Verteilungszentrums in Rafah, um seine dritte Chance zu nutzen, etwas Essbares zu bekommen. “Ich war verzweifelt, irgendetwas mitzubringen — Mehl, Reis, Pasta, alles — für meine Eltern, meine Geschwister und deren Kinder”, berichtet er.
Als der Zugang zum Verteilungszentrum geöffnet wurde, rannte Al-Shaqra so schnell er konnte, doch ein israelischer Quadrocopter-Drohne, die über ihm schwebte, begann mit dem Abwurf von Sprengsätzen. Die Explosion, die ihm zu nahe kam, führte zu schweren Verletzungen. “Mein linker Arm zertrümmerte. Ich sah das gebrochene Knochenstück und fühlte einen stechenden Schmerz in meinem Bauch”, sagte er. In einem verzweifelten Versuch, Hilfe zu finden, kämpfte er sich fast einen halben Kilometer weit, bevor er auf einem Eselkarren zusammenbrach, der ihn zu einem Feldkrankenhaus des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz brachte.

Auswirkungen und Reaktionen
Die Auswirkungen dieser tragischen Situation sind weitreichend. Die ständige Angst vor Gewalt und Hunger hat nicht nur zu physischen Verletzungen geführt, sondern auch zu psychologischen Traumata unter der Zivilbevölkerung. Laut Berichten von internationalen Hilfsorganisationen hat jede zweite Person in Gaza psychische Probleme, die durch die anhaltende Gewalt und das Fehlen von Nahrung und Wasser verschärft werden.
Die internationale Gemeinschaft hat sich zunehmend besorgt über die Situation in Gaza geäußert, jedoch ohne greifbare Lösungen anzubieten. Viele Menschen sind der Meinung, dass die politischen Entscheidungen, die die humanitäre Krise in Gaza verursacht haben, nicht durch eine kurzfristige Hilfe gelöst werden können. Unabhängige Experten warnen, dass die fortgesetzte Blockade und die Abhängigkeit von einer umstrittenen Organisation langfristige Folgeschäden für die gesamte Region nach sich ziehen könnten.
Die Reaktionen auf die Hilfsmaßnahmen der Stiftung waren gemischt. Während einige Menschen vor Ort sie als letzte Hoffnung betrachten, gibt es auch viele, die skeptisch sind und sich fragen, ob die Stiftung tatsächlich in der Lage ist, die notwendige Hilfe gerecht und effizient zu verteilen. Kritiker verlangen eine Rückkehr zu transparenten, bewährten Methoden der Hilfsverteilung, die den Bedürfnissen der Menschen vor Ort gerecht werden.
Zukünftige Entwicklungen
Die Lage in Gaza bleibt angespannt und ungewiss. Experten warnen davor, dass die anhaltende humanitäre Krise, verbunden mit den fatalen Umstanden bei der Nahrungsverteilung, zu einem flächendeckenden Zusammenbruch der Gesellschaft führen könnte, wenn nicht schnell gehandelt wird. Der Druck auf die internationale Gemeinschaft, Lösungen zu finden und den Zugang zu humanitärer Hilfe zu ermöglichen, wird immer dringlicher.
Die Frage bleibt, ob die Gaza Humanitarian Foundation in der Lage sein wird, ihre Praktiken zu ändern und den Menschen vor Ort tatsächlich zu helfen oder ob die Situation weiter eskalieren wird. Viele Menschen in Gaza haben das Gefühl, dass ihre Stimmen ungehört bleiben und wünschen sich ein Ende der Gewalt und eine Rückkehr zu einem Leben in Würde und Sicherheit.