Am 18. Juni 2024 hat die Werchowna Rada, das Parlament der Ukraine, das Gesetz Nr. 11469 zur doppelten Staatsbürgerschaft verabschiedet. Dieses Gesetz erlaubt es ukrainischen Staatsbürgern, eine zweite Staatsangehörigkeit zu besitzen, ohne ihre ukrainische Identität aufgeben zu müssen. Die Zustimmung des Parlaments kommt in einem kritischen Moment, da viele Ukrainer aufgrund der anhaltenden Aggression Russlands das Land verlassen mussten.
Der Gesetzesentwurf wurde ursprünglich von Präsident Wolodymyr Selenskyj am 22. Januar 2024, dem Tag der Einheit der Ukraine, initiiert. In seiner Rede betonte Selenskyj die Notwendigkeit, die ukrainische Diaspora zu unterstützen und gleichzeitig die Rückkehr von geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern zu erleichtern. Mit der Verabschiedung des Gesetzes in der zweiten und letzten Lesung steht nun das Kabinett der Ministerien vor der Aufgabe, eine Liste der Länder zu erstellen, deren Staatsbürgerschaft anerkannt werden kann.

Hintergründe und Kontext
Die Entscheidung, ein Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft einzuführen, ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine gesellschaftliche Antwort auf die geopolitischen Herausforderungen, mit denen die Ukraine konfrontiert ist. Angesichts der massiven Fluchtbewegungen in Folge der vollständigen russischen Invasion im Jahr 2022 hat die ukrainische Regierung erkannt, dass viele Staatsbürger im Ausland auf Unterstützung angewiesen sind. Das neue Gesetz soll nicht nur die Rückkehr dieser Menschen erleichtern, sondern auch die Bindungen zur ukrainischen Kultur und Identität stärken.
Die Verfassung der Ukraine sieht derzeit nur eine einzige Staatsbürgerschaft vor. Diese Regelung hat zahlreiche Ukrainer, die im Ausland leben und sich dort ein neues Leben aufgebaut haben, in eine schwierige Lage versetzt. Viele von ihnen hatten die Wahl zwischen dem Verbleib im Ausland mit einer neuen Staatsbürgerschaft oder der Rückkehr in ein von Krieg betroffenes Land. Der neue Gesetzesentwurf könnte nun eine Lösung bieten, indem er die Möglichkeit schafft, die ukrainische Staatsbürgerschaft zu behalten.
Doch trotz der positiven Aspekte gibt es auch erhebliche Bedenken. Menschenrechtsaktivisten haben die Gesetzgebung scharf kritisiert und warnen vor möglichen Nachteilen und Risiken, die mit der neuen Regelung verbunden sind. Alona Lunova, die Leiterin des Menschenrechtszentrums ZMINA, äußerte sich besorgt über die Implikationen des Gesetzes, insbesondere in Bezug auf Personen, die aus besetzten Gebieten der Ukraine stammen und möglicherweise unter dem Druck der Besatzungsmächte stehen.

Investigative Enthüllungen
Ein zentraler Kritikpunkt an dem neuen Gesetz ist die explizite Regelung, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft für Personen mit russischen Pässen ausgeschlossen ist. Das ukrainische Gesetz betrachtet Russland offiziell als Terrorstaat, was bedeutet, dass der Besitz eines russischen Passes automatisch zum Verlust der ukrainischen Staatsbürgerschaft führt. Lunova hebt hervor, dass dies insbesondere für Menschen aus den besetzten Gebieten problematisch ist, wo viele unter Druck stehen, sich mit den Besatzungsbehörden auseinanderzusetzen.
Diese Regelung könnte bedeutende Risiken für Menschen bergen, die gezwungen sind, mit der Besatzungsmacht zu kommunizieren, um ihr Überleben zu sichern. Einige dieser Personen könnten fälschlicherweise als Kollaborateure angesehen werden, was ihnen die ukrainische Staatsbürgerschaft kosten könnte. Lunova beschreibt, dass besonders gefährdet sind Menschen, die gezwungen wurden, für die russische Besatzung zu arbeiten oder sich im Rahmen der Mobilisierung der Besatzungsmächte zu engagieren.
Zusätzlich wird die Situation von staatenlosen Kindern, die in der Ukraine geboren wurden, als besorgniserregend angesehen. Diese Kinder könnten unter das neue Gesetz fallen und hätten möglicherweise keinen Zugriff auf ukrainische Dokumente oder Staatsbürgerschaft, was ihre rechtlichen und sozialen Anrechte erheblich beeinträchtigen würde.

Auswirkungen und Reaktionen
Die Reaktionen auf das neue Gesetz sind geteilt. Während einige es als Fortschritt für die ukrainische Diaspora und als ein Zeichen der Solidarität mit den im Exil lebenden Ukrainern betrachten, warnen andere vor den möglichen negativen Folgen. Berichten zufolge äußerten sich Menschenrechtsorganisationen besorgt über die Risiken, die das Gesetz für bestimmte Gruppen von Menschen darstellen könnte. Der Verdacht, dass die Regierung möglicherweise selektiv gegen bestimmte Bürger vorgehen könnte, ist ein zentrales Thema in der öffentlichen Debatte.
Zusätzlich gibt es Bedenken, dass die Bürokratie rund um die Beantragung der doppelten Staatsbürgerschaft komplex sein könnte, was insbesondere für Menschen aus kriegsgeplagten Regionen zu Hindernissen führen könnte. Viele Ukrainer, die nicht in der Lage sind, Zugang zu Konsulaten oder Botschaften zu erhalten, könnten von den neuen Regelungen ausgeschlossen bleiben.
Zukünftige Entwicklungen
Die nächsten Schritte in diesem Prozess werden entscheidend sein. Das Kabinett der Ministerien hat die Aufgabe, die Liste der Länder zu erstellen, deren Staatsbürgerschaft anerkannt wird. Diese Liste könnte erhebliche Auswirkungen auf die geopolitischen Beziehungen der Ukraine haben und darüber hinaus die Möglichkeiten für ukrainische Staatsbürger im Ausland beeinflussen. Der Erfolg dieser Regelung hängt jedoch davon ab, wie die Umsetzung in der Praxis erfolgt und welche bürokratischen Hürden möglicherweise errichtet werden.
Es bleibt abzuwarten, wie die ukrainische Regierung auf die Kritik von Menschenrechtsaktivisten reagieren wird. Die Dringlichkeit, die Rechte und das Wohlergehen aller Ukrainer zu schützen, könnte in den kommenden Monaten zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der Regierung werden. Während die ukrainische Gesellschaft in einer Zeit des Umbruchs steht, könnte die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft auch zu einem Symbol für die nationalen Werte und die Solidarität innerhalb der Nation werden.
In Anbetracht der Komplexität der aktuellen politischen und sozialen Lage in der Ukraine ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Stimmen der Zivilgesellschaft in den Entscheidungsprozess einfließen. Die Herausforderungen, vor denen die Ukraine steht, erfordern ein sorgfältiges Abwägen von Rechten und Pflichten und die Absicherung einer gerechten und inklusiven Gesellschaft für alle ihre Bürger.